„Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehnsucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen; fast hört man’s, als rief er die Mahnung uns zu:
Es kann deines Schöpfers Wille nicht sein, Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih’n, Dir ewig den Flug zu versagen!“
Ist sie das? Der schmale, hell glänzende Strich in der Landschaft, direkt vor dem Wäldchen? Kein Zweifel, das ist sie. Lady Agnes. Eine Iljuschin IL 62, erster Langstrecken-Passagierjet der Sowjetunion, bei der Interflug mit der Kennung DDR-SEG bis zur Wende im Dienst und am 23. Oktober 1989 von Heinz-Dieter Kallbach, einer Legende unter Verkehrspiloten, auf der nur 850 Meter langen Graspiste in Stölln auf den Acker gesetzt. Reife Leistung. Einige Minuten später bin ich mir sicher: Der Sonderlandeplatz Stölln-Rhinow liegt direkt vor mir, vielleicht zehn Kilometer entfernt. Der Plan, mit dem Segelflugzeug zur Bundesgartenschau nach Stölln zu fliegen und ein bisschen auf den Spuren des Flugpioniers Otto Lilienthal zu wandeln, ist geglückt.
Rückblick: Bereits in der Woche vor dem 8. August hatte ich mit Johannes Hille, dem Vorsitzenden des Flugsportvereins „Otto Lilienthal“ Stölln/Rhinow, telefoniert und ihm von meinem Plan erzählt, von Perleberg nach Stölln zu fliegen um den dortigen Standort der Bundesgartenschau 2015 zu besuchen. Obwohl am geplanten Wochenende der Cross Country Champions Cup, kurz CCCC, stattfinden würde, erbarmte sich Johannes, mir einen Hallenplatz für die Else und eine Schlafgelegenheit zu organiaisern. Einen Tag später würde ich versuchen, auch den Rückweg ohne Motorkraft zu bewältigen. Soweit, so gut geplant.
Die Ausrüstung für den Trip musste überschaubar ausfallen, da das Gepäckfach der Else wirklich nur das nötigste fasst. Streckenflieger-Kulturbeutel in Form eines Zipperbags mit Duschbad, Deo, Zahnpasta und Sonnencreme im Miniturformat plus Zahnbürste und Allergiepillen. Wechselwäsche. Ladekabel fürs Handy, Portemonnaie, Jacke, Bordbuch und persönliche Dokumente, die obligatorische Außenlandelektüre, mein Schlafsack und ein Bettlaken samt Kissenbezug. Dazu zwei Flaschen wasser, ein paar Müsliriegel und das übliche Gedöns wie Sonnebrille, Handy, Pisstüte und ICAO-Karte. Mit dem Berg Gepäck stand ich am 8. August pünktlich um zehn in Perleberg auf der Matte, aber die Kombination aus Wetterbericht und dessen empirischer Überprüfung via Blick in den Himmel machte alle Erfolgsaussichten zunichte. Aber ich hatte immerhin Zeit, verschiedenste Beladevarianten durchzuprobieren und den ganzen Kram in den Flieger zu puzzeln. Fazit: es passte fast alles ins Gepäckabteil, lediglich der Schlafsack blieb über. Aber auch das war kein Problem, denn da ich die Else stets mit vier Kissen unterm Arsch fliege, konnte ich hier substituieren: Alle Kissen raus, Schlafsack rein, ein Kissen drauf und es war nicht nur ok, sondern saumäßig bequem. Den Nachmittag verbringe ich damit, der ersten Buga-Standort, Havelberg, ohne Flugzeug abzuarbeiten.
Am Folgetag ergibt sich immerhin ein schöner Flugtag, bei dem ich dreieinhalb Gäste glücklich machen kanne. Ein junger Kerl und seine Freundin wollen einen Windenstart und steigen hinterher mit zum Dauergrinsen festgetackerten Mundwinkeln aus dem Bocian. Flug drei mache ich mit meinem Kumpel Jon, den ich vor einigen Jahren beim Badminton in Wittenberge kennengelernt habe. Im F-Schlepp geht es hinter der Remo der Flugggruppe des JG 71 Richthofen zügig in den Himmel, und im Kreisen über Perleberg spiele ich den Reiseführer. Da Jon noch ein bisschen Spaß haben will, verpasse ich ihm eine Handvoll Parabelflüge, die er ganz offenbar genial findet. Schließlich folgt noch ein F-Schlepp mit einem Gast aus Karstädt, der vor allem aus der Luft fotografieren will. Der Schlepp führt uns zunächst über das ausgedehnte Waldgebiet südlich des Platzes, da ich den Schlepiloten gebeten hatte, nicht über die Stadt zu fliegen, um Ärger wegen Lärm von vornherein aus dem Weg zu gehen. Nach dem ausklinken geht es nach Perleberg, und dort ziehen ich bedächtig Kreise, während hinter mir die Kamera klickt. Schließlich geht es schneller als erwartet nach unten, aber bei 250 Metern finde ich einen Bart, der eng gekreist nochmal 200 Meter bringt. Weiter geht es leider nicht, aber nicht etwa, weil die Luft nicht trägt, sondern weil mein Engagement, meinem Gast für sein Geld mehr Flugzeit zu erkämpfen dessen Kreisflugstabilität diametral entgegen steht. Nachdem von hinten unmissverständlich die Bitte kommt, aufzuhören, reiche ich sicherheitshalber meinen Hut durch mit der Ansage „Wenn, dann da rein!“. Fünf Minuten später sind wir unten, alles gut gegangen.
Zweiter Versuch, zwei Wochen später
An diesem Wochenende scheint alles zu passen. Stabile Wetterlage mit reichlicher Cumulusbildung vorhergesagt und zwei Tage angesetzter Flugbetrieb in Perleberg. Zunächst allerdings muss ich mir Rückholer organisieren, und schließlich erklären sich Frank und Valentin, zwei Piloten, die in Neu Gülze fliegen und in Perleberg eventuell ihren Bergfalken stationieren wollen, bereit, mich im Fall der Fälle vom Acker zu kratzen. Erst gegen 12 Uhr kommt der Flugbetrieb einigermaßen in Gang, und beim Blick an den Wolkenlosen Himmel fluche ich auf den Wettergott und sein Bodenpersonal beim DWD. Nichts tut sich. Der Bocian fällt nach Platzrunden immer wieder runter, aber gegen 13 Uhr bilden sich doch noch Wolken. Ich schleppe das ganze Geraffel zum Flieger, nachdem ich meine Vorflugkontrollliste abgearbeitet habe und überlege noch, mein Trinksstem anzuklemmen, verkneife mir es dann aber. Aberglaube, genau wie mit dem Abkleben: Klebste ab, bleibste da. Klebste nicht ab, fliegste sonstwieweit. Isso. Punkt und aus.

Um 13.20 Uhr schleudert mich die Winde in den Himmel. Trotz gut 400 Metern geht der Versuch daneben, es steigt kein bisschen. Der Wald in der Südplatzrunde, der sonst eigentlich zuverlässig Steigen bringt, lässt mich im Stich. Nach wenigen Minuten bin ich wieder unten. Egal, ran und zweiter Versuch. Wieder 400 Meter, dieses Mal gehe ich in die Nordplatzrunde, und siehe da, im Gegenanflug steigt es. Zwei, drei Bärte später stehen 1600 Meter auf der Uhr. Das muss zum Abflug reichen trotz des straffen Gegenwindes. Navigatorisch ist das ganze simpel: Einfach in südöstlicher Richtung die Waldkante entlang, als Orientierungslinien eigenen sich die B5 und die Bahnlinie Hamburg-Berlin. Am Boden sehe ich Bad Wilsnack mit der Wunderblutkirche vorbeiziehen, dann Glöwen. Die Elbe glitzert in der Sonne ebenso wie die Havel, die zum einen bei Havelberg in den größeren Fluss einmündet, zum anderen über die Wehre bei Gnevsdorf. Direkt über Havelberg drehe ich ein paar Kreise und habe nebenbei Zeit, die schöne Stadt aus der Vogelperspektive zu betrachten. Das Buga-Gelände im Norden, den Dom, die Insel mit der St. Laurentius-Kirche, in der die Blumenausstellung stattfindet und in der ich mich zwei Wochen zuvor über die – sagen wir mal gewöhnungsbedürftige – Floristik aus Fernost gewundert habe.
In einiger Entfernung eine große, glänzende Fläche. Blick zur Karte, Blick zum Fleck, Aha-Effekt: Der Gülper See. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn nun ist klar, dass ich mein Ziel, den Stöllner Flugplatz, selbst ohne weitere Thermik bei entspanntem Gleitflug erreichen müsste. Als ich den See rechts querab habe, ziehe ich noch zwei, drei Angstkreise, die aber keine Höhe bringen. Dennoch erreiche ich mit 1100 Metern Stölln und Lady Agnes gegen 15.12 Uhr Ortszeit. Noch gute zehn Minuten kreise ich hier und versuche, mit dem Handy Fotos der Anlage zu schießen, ohne dabei abzustürzen. Das wird mir schließlich zu doof und ich mache mich klar zur Landung. Bei Stölln Info frage ich die aktuellen Landeinformationen ab, insbesondere die Platzrunde und das Landeverfahren. Da ein Segelflugzeug in der Motorbahn links vom Startaufbau steht, weiter rechts aber noch ein Landezeichen liegt bin ich mir nicht sicher, wie das hier gehandhabt wird. Vom Flugleiter kommt die lapidare Info, dass ich landen kann, wo gerade Platz ist. Um 15.25 Uhr steht die Else auf der Wiese des Stöllner Flugplatzes, eine Stunde und 43 Minuten nach dem Start in Perleberg.


Lady Agnes und das Lilienthal-Centrum
Das Anmeldeprocedere ist simpel: Hallo, ich bin der und der, habe mit dem und dem gesprochen, habe das und das vor. Alles klar, viel Spaß. Nach einer guten Stunde shake hands und Bekanntmachen laufe ich den Hang hinauf zum Buga-Gelände. Meine Frage, ob es für Leute, die mit dem Segelflugzeug anreisen, Rabatt gibt, quittiert die Kassentante mit verzerrtem Gesicht. Nunja, muss ja nicht jeder was von der Fliegerei halten. So schlendere ich einmal über das kleine Areal, überfliege die Ausstellung in der IL 62 zur Interflug-Geschichte, die ich vor einigen Jahren schonmal ausgiebig inspiziert hatte. Ein Magnum-Mandel später stehe ich auf der Aussichtsterrasse und tackere wehrlosen Menschen, die den Flugbetrieb beobachten, ein Gespräch über die Fliegerei ans Bein.


Die Zeit drängt, bis 19 Uhr muss ich fertig sein und vermute, im Lilienthal-Centrum möglicherweise etwas länger zu brauchen. So spaziere ich zügig den Flieger- und Landschaftspfad entlang, dessen Infotafeln ich aber erstmal links liegenlasse. Die kann ich auch auf dem Rückweg lesen. Vor dem Lilienthal-Centrum erwartet eine Let Z-37 Čmelák die Besucher. Das Gebäude der alten Brennerei beherbergt eine nette kleine Ausstellung, in der das Wirken von Otto Lilienthal gewürdigt wird. Dabei steht die Information im Fokus und weniger die Ausstellung historischer Exponate. Herausragend ist, dass der Otto-Lilienthal-Verein Stölln in seiner Schau nicht der Versuchung verfällt, sich allein auf Lilienthals Fliegerei zu konzentrieren, sondern sie seinem breiten Schaffen Raum geben. Dabei spielt auch die enge Beziehung zu seinem Bruder Gustav eine Rolle, da er Otto Lilienthal bei vielen Projekten unterstütze und selbst als Architekt erfolgreich war. Da wird über Lilienthal den Maschinenbauingenieur berichtet, Lilienthal, den Inhaber von 20 Patenten, Lilienthal, den Theaterdramaturg, Lilienthal, den fortschirttlichen Arbeitgeber, der seine Angestellten am Gewinn teilhaben ließ, die Brüder Lilienthal, die gemeinsam Flugzeuge bauten und mit dem Anker-Steinbaukasten einen indirekten Vorgänger des Legosteine enwickelten. Insbesondere für den passionierten Segelflieger interessant ist eine Schau zahlreicher Segelflugzeugmodelle des Greizers Günter Binge aus Greiz. Mit einem der Vereinsmitglieder komme ich schließlich ins Gespräch und erfahre, dass die Bundesgartenschau noch einmal für einen Besucherschub gesorgt hat, nachdem das Besucherzentrum seit seiner Eröffnung 2013 von Touristen und Fluginteressierten gut angenommen wird.










Gegen 19.45 bin ich wieder auf dem Flugplatz. Der Grill brennt bereits, und als ich nach meinem Flugzeug frage zeigt sich einmal mehr die wahnsinnige Gastfreundschaft der Stöllner. „Steht in der Halle, ist doch ok so, oder?“ kommt es lapidar von irgendwem. Ich lasse mir die Hall noch einmal aufschließen, werfe meinen Krempel in den Schlafsack und darf in Zimmer 4 ein Bett belegen – ein Fehler, wie sich später herausstellt.
Bei totem Tier vom Grill lerne ich die Stöllner etwas besser kennen, wir tauschen uns über unsere Vereine aus, geflogene Flugzeugtypen und natürlich allerlei Erlebnisse. Das Projekt 100 Plätze – 100 Flüge findet durchaus Anklang, und die Idee, zur Buga zu fliegen, kommt ebenfalls gut an. Als es dunkel wird, baut einer der Stöllner sein Teleskop auf und ich kann abenso wie einige andere Flieger einen Blick auf Mond, Saturn und diverse Galaxien werfen. Gegen 23 Uhr ist auch Johannes, mit dem ich bislang nur telefoniert und alles abgesprochen hatte, wieder am Platz ein und wir sitzen noch bis nach Mitternacht am Lagerfeuer und erzählen. Die Nacht schlafe ich wenig bis gar nicht. Ob es an dem Erlebnissen des Tages liegt, die erst verarbeitet werden wollen oder am Schnarchen im Raum vermag ich nicht abschließend einzuschätzen. Gegen fünf Uhr ziehe ich in ein anderes Zimmer um und kann doch noch zwei Stunden pennen.
Frühstück, Boarding, Wartezeit, Rückflug
Um acht gibt es frische Brötchen mit Marmelade und Wurst, eine Tasse heißen Kräutertee und die Befürchtung, dass ich mir den Rückflug wohl klemmen kann. Hohe Schichtwolken, die sogar ein paar Tropfen Regen abladen, Kälte und kaum Sonne – die Laune sinkt. Der Wetterbericht lügt irgendwas von Cu-Thermik gegen Mittag. Mal gucken.
Gut zwei Stunden später beginnt der Flugbetrieb, und tatsächlich reißt der Himmel auf. Allerdings lässt die Thermik zunächst auf sich warten. Nachdem ich meinen Flieger gecheckt und mein Gepäck verstaut habe, mache ich mich nützlich und helfe beim Flugbetrieb mit. Die Stöllner haben viele Gäste zu versorgen und parallel läuft der Schulbetrieb. Viel zu tun also.



12.40 Uhr Uhr mache ich fertig zum Start. Jetzt aber streikt die Winde. Rund 20 Minuten sitze ich angeschnallt im Flieger – dank Schlafsack unterm Arsch recht bequem – und warte. Dann steige ich nochmal aus. 15 Minuten später heißt es, bereit machen. Ich soll als Versuchskaninchen den ersten Start mit der reparierten Winde machen. Um 13.20 Uhr strafft sich das Seil und die Else nimmt Tempo auf. Sekundenbruchteile später drücke ich den Knüppel bis zum Anschlag durch, um der Aufbäumneigung des Fliegers einigermaßen entgegen zu arbeiten. Der Fahrtmesser zeigt 150, und ich brülle ins Mikro, dass der Kollege langsamer schleppen soll. Kurz darauf passt es, und ich steige mit konstant 110 weiter. Mit 400 Metern fliege ich in die Südplatzrunde und finde tatsächlich Thermik, die mich langsam nach Oben trägt. Der Wind steht günstig und versetzt mich beim Kreisen in Zielrichtung. Besser gehts nicht.
Bei knapp 1000 Meter nehme ich Kurs Richtung Heimat, und zunächst sieht es gar nicht mal so gut aus. Nördlich des Gülper Seese gehen einige Kreis ins Leere, und ich fliege fatalistisch in Zielrichtung weiter, obwohl es mehr säuft als steigt. Irgendwass muss da noch kommen, denke ich und kreise so, dass ich immer einen Acker in Reichweite habe. Nahe Voigstbrügge habe ich schon fast aufgegeben und nur noch 450 Meter über grund, als das Vario Steigen anzeigt. Endlich, und jetzt aber richtig






. Mit einem einzigen Bart kurbele ich mich auf mehr als 1400 Meter hoch bis direkt unter die Wolken. Jetzt läuft es. Mit Nullsinken und Rückenwind flitze ich mit 120 bis 140 Sachen in Richtung Heimat, und leidglich über Glöwen nehme ich im Kreisen nochmal ein bisschen Steigen mit. Bei 1400 Metern überfliege ich das Stadtzentrum von Perleberg, melde mich an und höre Freudige Errregung bei meinen Kameraden. Geschafft, zu Hause. Allerdings, jetzt schon Landen wäre Quatsch, denn das Wetter ist super. So fliege ich noch nach Karstädt und von dort nach Wittenberge, bevor ich um 15.29 Uhr nach zwei Stunden und neun Minuten die Else mit einer langen Landung auf die Perleberger Bahn setze. Ok, zugegeben, ich setze sie dreimal auf die Bahn, aber dann steht sie auch.

Beim Einräumen werten wir den Tag aus, und alle sind zufrieden. Zum Schluss rüsten wir noch mit Unterstützung der Neu Gülzer den Piraten ab, mit dem es am kommenden Wochenende zum Oldtimertreffen nach Görlitz geht. Ein Hammerwochende geht zu Ende, und das nächste wirft seine Schatten voraus. Erster Wandersegelflug mit Erfolg absolviert, den achten Platz auf meiner To-Do-Liste angeflogen und bei bestem Wetter insgesamt knapp vier Stunden in der Luft verbracht. Quality time, im besten Sinne.
