Keine Ahnung wann ich beim Segelfliegen das letzte Mal Herzklopfen hatte. Bei der praktischen Prüfung war ich zu einem gewissen Grad aufgeregt, aber vergleichbar mit der Nervosität, die ich heute beim Umschulen auf die LS1 hatte, war das damals harmlos. Immerhin konnte ich mir bei der Prüfung sicher sein, dass hinter mir jemand sitzt, der den Flug auch überleben will und im Zweifelsfall einfach mal gepflegt ins Ruder greift, wenn ich richtigen Mist baue. Dem war heute nicht so. Dabei hatte ich gar nicht damit gerechnet, am Ostermontag überhaupt fliegen zu können, denn eigentlich musste ich arbeiten. Vier Tage Osterdienst mit reichlich lala-Terminen von Schützenverein über Osterfeuer bis hin zu Party mit Uraltrockern.
Meine Kameraden hatten die Flugsaison bereits am Samstag eröffnet, und ich hatte es zwischen zwei Terminen immerhin mal kurz auf den Platz geschafft, um jeden Einzelnen anzubetteln, ob er nicht Montag auch noch fliegen kommen will. Damit nämlich auch ich fliegen kann. Der Plan war gut: Sonntag die gesamte Zeitungsausgabe vorbereiten und am Montag ab 17 Uhr nur noch die Landesseite und die Titelseite zusammenstückeln. Blöd nur, dass mir am Sonntag, während ich in der Redaktion den ganzen Krempel abtippte, noch zwei Termine einfielen, die ich kaum weglassen konnte. Das Kindermusical in der Bad Wilsnacker Kirche um 10 Uhr war noch das geringere Problem, aber das Künstlerportrait um 12.30 in Cumlosen haute den ganzen Plan durcheinander, weil es einfach Mist ist, mitten im Flugbetrieb abzuhauen. Also habe ich das gemacht, was ich in solchen Situationen immer gerne tue: Ich bin erstmal gepflegt ausgerastet. Bisschen was durch die Gegend geworfen, rumgebrüllt und wieder mal meine ganze Lebssituation infrage gestellt. Irgendwie kommt der kleine bockige Junge tief in meinem Innersten damit einfach nicht klar, wenn Sachen nicht so laufen, wie er sich das vorstellt. Natürlich hab ich mir bei der Aktion wieder mal selbst weh getan und mich danach für meine eigene Idiotie verflucht, zumal sich einen Tag drauf alles als unbegründet erweisen sollte.
Also am Montag früh schnell das Kindermusical fotografiert und dann im gestreckten Galopp nahe am Bußgeldbereich nach Perleberg zum Platz. Das Hallentor stand schon offen und der erste Flieger draußen. Schnell die Begrüßungsrunde und mit anfassen beim Schieben und Abkullern. Dann beim Briefing der Offenbarungseid. „Leute, ich muss zwischen zwölf und eins nochmal weg, Termin.“ Aber nicht etwa das böse Grummeln kam als Quittung, sondern die pragmatische Lösung eines Vereins, bei dem wirklich jedes einzelne Mitglied beim Flugbetrieb gebraucht wird. „Dann machen wir in der Zeit die Doppelsitzerstarts und anschließend schulst du auf die LS1 um“, machte Frank eine Ansage, die mich verblüffte und erfreute. Also Futter, Getränke und Kamera in die Autos und raus aufs Flugfeld. Endlich wieder auf dem Platz, und zwar nicht nur zum Bauen und Reparieren, sondern zum Fliegen. Der Bodenkoller hatte bei mir in den letzten Tagen ziemlich groteske Formen angenommen, die im oben angesprochenen Wutanfall gipfelten. Es war zwar richtig, am letzten Tag der Saison 2014 die Prüfung zu machen und den Schein im Sack zu haben. Andererseits hatte ich die psychologische Wirkung unterschätzt, die ein Schein, den man Saisonbedingt nicht nutzen kann, auf seinen Besitzer hat. Ein Schein, den er sich über sechs Jahre hart erkämpft hatte.Angesichts des straffen Windes auf dem Flugfeld und der Wippenden LS1-Fläche in meiner rechten Hand war das aber vergessen.
Endlich wieder Gekrächze im Funk, endlich wieder das Surren eines durchs Gras flitzenden Windenseils, endlich wieder das Geröhre unseres alten Golfs, dessen Auspuffanlage nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Es war wieder Flugbetrieb! Eine gute Stunde half ich beim Start mit und übeflog nebenbei schonmal das Flughandbuch der LS1. Tempo im Windenstart 110, Normalgeschwindigkeit 80, bestes Gleiten bei 90. Vne 220. Start mit neutraler Knüppelstellung, einer eventuellen Neigung zum Aufbäumen entgegen steuern. Landeanflug mit 90 bis 100 Sachen, Kurz vor dem Abfangen die Klappen halb einfahren. So weit, so gewöhnlich. Zentrale Frage war eher, ob ich mich mit Kissen einigermaßen Bequem ins Cockpit würde fädeln können. Kurz nach 12 verschwand ich auf meinen Termin und war mit dem Glockenschlag des Sükower Kirchturms, unserem Marker für die Dritte Kurve beim Startaufbau mit Ostwind, wieder am Platz.
Zunächst standen aber zwei Starts mit dem Bocian an. Ich war seit November nicht geflogen und wollte zunächst zum warm werden etwas unterm Arsch haben, was ich kannte. Frank erklärte sich bereit, als Sicherheitspilot im hinteren Cockpitz Platz zu nehmen. Das war mir lieb, denn so richtig sicher fühlte ich micht natürlich nicht nach der Winterpause. Die Routinen liefen wie von selbst. Startcheck, Start, Platzrunde. Nach ein paar Minuten in der Luft kehrte die Sicherheit zurück – und die Wolken versprachen sogar ordenliche Steigwerte. Kreisen, Sackflug, Schnellflug, Links- und Rechtsslip: es ging wieder. „Geh zur Landung und mach alleine noch einen“, schlug Frank vor. „Damit du die Sicherheit auch im Alleinflug wieder hast.“ Dass das mein erster Flug als Lizenzpilot war, drang gar nicht so richtig zu mir durch.
Der zweite Start lief ebenso problemlos wie der erste, und der erstbeste Bart weckte mit Steigwerten zwischen zwei und drei Metern den Kampfgeist. Morderisch ruppig aber mit Schmackes ging es nach oben und nach wenigen Minuten passierte die kleine Nadel im Höhenmesser die eins. Irre. Keine sechs Minuten auf 1000 Meter. Schon bei 900 Metern hatte Frank mich darauf hingewiesen, dass ich eigentlich nur ne Platzrunde fliegen und mich dann in die Else setzen sollten. Dennoch, die Tausend wollte ich geknackt sehen. Nun hieß es runter kommen, und das war leichter gedacht als getan. Im Geradeausflug mit Tempo 120 noch einen Meter Steigen… Also Klappen raus, Quer- und Gegenseitenruder und mal eben 500 Meter Höhe abgeslippt. Seitengleitflug fetzt. Die restlichen 500 Meter gingen für Steilkreise und andere Spielereien drauf, nach zehn Minuten war ich wieder unten.
In der nächsten halben Stunde nahm sich Frank wirklich Zeit für mich und meine Umschulung. Im Detail ging er mit mir die Eigenheiten der LS1 durch. Im Cockpit hieß es Sitzprobe, Kuppelprobe, Klappenprobe. Das Finden des Neutralpunktes der Ruder, Gewöhnung an die Ruderwege. Augen zu und Kuppelgriff ziehen, Augen zu und Finger auf den Fahrtenmesser, Höhenmesser, das Funkgerät. Wir besprachen exakt das Flugprogramm für meine erste Runde. Start mit Kontrolle der Aufbäumneigung, sanfter Steigflug, direkt nach dem Auskuppeln Geradeausflug mit Horizontbild- und Rudergewöhnung. Dann eine saubere Platzrunde und zur Landung. Natürlich mit halb gezogener Klappe beim Abfangen. Es Konnte losgehen. Die Kuller war ab, aber angeschnallt war ich nicht. So viel zur Bedeutung des Startchecks. Kaum ist die Haube zu kommt das Tunnelgefühl. Ich blende alles um mich herum aus. Den Ausklinkgriff in der linken Hand, die rechte fest am Steuerknüppel. Blick zur Winde. Jeder Herzschlag dröhnt in meinem Schädel. Bin ich wirklich bereit? Ich weiß es in dem Moment wirklich nicht. Genauso war es beim ersten Flug mit dem Piraten, beim ersten Flug mit der Mistral. Und jetzt die Else. Das Seil läuft. Straff. Die Beschleunigung presst mich so weit ins Rückenkissen, dass ich im ersten Moment die Füße strecken muss, um an die Pedale zu kommen. Scheiße, denke ich, versuche aber, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und ziehe sanft in den Steigflug. Die Lage stimmt, so dass ich mich im Cockpitz zurechtrücken kann. Schon besser. Der Steigflug wird flacher, das Tempo steigt. Als das Seil bei 140 immer noch in der Kupplung hängt ziehe ich am Griff und bin frei. Wie immer bei einem ersten Flug mit einem Muster bin ich am Anfang einigermaßen überfordert damit, Horizontbild, Geräuschkulisse, Steuerei und Fahrtmesseranzeige wirklich zusammen zu bringen. Aber ich fliege erstmal, und darauf kommt es an. Die Höhe von 350 Metern reicht gerade für zwei Kurven. Im Gegenanflug reicht die Zeit, um die Ruderwirkung etwas auszuporbieren. Das Fahrwerk bleibt wie mit Frank abgesprochen draußen. Herrje ist die Kiste empfindlich, denke ich jedes Mal, wenn ich ein bisschen Querruder gebe und dabei natürlich völlig übertreibe, aus Bocian-Gewohnheit heraus. Position bei 170 Metern, es säuft im Gegenanflug gewaltig. Meldung per Funk und Konzentration. Tempo auf 90. Dritte Kurve, vierte Kurve. Die Richtung stimm, jetzt kommts drauf an. Klappen Raus und es geht runter. Ich nehme die Schwelle als abfangpunkt ins Auge und konzentriere mich auf die Klappenarbeit. Der Wind ist böig und kommt 90 Grad von links, also oderntlich vorhalten. Kurz vor dem Aufsetzen richte ich den Flieger aus und nehme die Klappen zur Hälfte rein. Sie schwebt. Und schwebt. Und schwebt. Und schwebt. Und schwebt. Und schwebt. Nach gefühlter Endlosschwebe bumst das Rad auf die Erde und nach kurzem Rollweg stehen wir. Ich bin unten, lebe noch und der Flieger ist ganz. Die nächste Minute gönne ich mir, um meinen Puls wieder einzufangen. Dann stehe ich vor einem neuen Problem, an das ich überhaupt nicht gedacht hatte: Wie kommt man aus einem Einsitzer mit nicht angeschlagener Haube? Irgendwie fingere ich die Plexiglasverkleidung über meinem Kopf beiseite und lege sie sanft ins Gras neben dem Flugzeug. Frank kommt mit dem Rückholer und grinst. Sah wohl gar nicht so schlecht aus.
Zurück am Startaufbau gibt es Manöverkritik. Der Start war angemessen vorsichtig, jetzt soll ich mich aber etwas mehr ranhängen und den Steigwinkel mit einem Blick in die Flächen kontrollieren. Das Seil strafft sich wieder und läuft. Und läuft. Und läuft ungefähr 30 Meter, ohne wirklich anzuziehen. „Soll ich auskuppeln?“ frage ich über Funk, erhalte aber keine Antwort. Dann stehe ich wieder. Einen Augenblick später presst mich die Beschleunigung wieder in den Sitz, und dieses Mal läuft es besser. Trotz der Verschenkten Strecke am Anfang stehen Dieses Mal 400 Meter auf der Höhenuhr, und nach kurzer Orientierung greife ich zum Fahrwerkshebel. Wieder ein erstes Mal. Das Rad flutscht in den Schacht, die Klappen krachen zu und schon ist Ruhe im Flieger. Nochmal raus und wieder ein. Die Handgriffe müssen sitzen. Etwas nach links Querab zuckt das Variometer verdächtig, und ich kreise vorsichtig ein. Nach ein paar Minuten habe ich den Dreh einigermaßen raus und bin zunehmend angetan von der Agilität des eleganten Clubklasse-Flitzers. Ich halte mich konstant zwischen 400 und 600 Metern Höhe, mehr will es einfach nicht werden. Aber es reicht, um sich sachte an die Eigenheiten des Flugzeugs zu gewöhnen. Und es fängt an Spaß zu machen, wenn man mal von der kackstuhlartigen Sitzposition absieht. 24 Minuten dauert Flug zwei, und dieses Mal sieht auch die Landung besser aus.
Einer geht noch. Beim dritten Anlauf bin ich deutlich entspannter. Einfach keine Scheiße machen, denke ich und ziehe den Start sauber nach oben. Schon etwas mutiger nehme ich den erstbesten Aufwind mit und lasse mich ordentlich durchschütteln. Einmal mehr fällt mir auf, wie schnell ich Vertrauen zu neuen Flugzeugen fasse und lege mich ordentlich in die Kreise rein. Allerdins fliege ich noch immer viel zu schnell und trimme deshalb etwas schwanzlastiger. Siehe da, bei 80 kreist es sich doch schon viel besser. Das Vario pendelt zwischen einem und drei Metern steigen, immer wieder klatscht der Zeiger gegen den Anschlag bei fünf Metern. Der Höhenmesser lügt bereits irgendwas bei 700 Metern, aber das Fahrstuhlfahren hört nicht auf. Kreisen in der Sonne bei angenehmen Temperaturen – schöner hätte meine erste Begegnung mit der LS1 kaum laufen können. 800 Meter über der Erde dürfen die Flugmanöwer durchaus etwas radikaler ausfallen, und so lege ich mich mit reichlich Schräglage in die Kreise. Plötzlich erwischt ein Böe das Flugzeug und ich steuere instinktiv dagegen. Das war knapp, denke ich mir ohne genau zu wissen, was eigentlich passiert ist. Nur der harte metallische Schlag in dem Moment gibt mir zu denken, denn ich habe keine Ahnung, ob irgendwas kaputt gegangen ist. Habe ich die Düse am Heck verloren? Kann nicht sein, alle Instrumente funktionieren. Auch die Steuerung reagiert tadellos, Rollen und Nicken bleiben ohne Geräusche im Rumpf, die auf Lose Teile hindeuten könnten. Also weitermachen. Kurz nach diesem Schreckmoment knackt der Zeiger einmal mehr an diesem Tag die 1000-Meter-Marke und ich bin zufrieden mit der Welt. Ich sitze bei Kaiserwetter in einem Kilometer Höhe über der Prignitz, zwar noch immer durchaus unbequem, aber da lässt sich mit ein bisschen Bastelei sicher noch was dran ändern.
Während ich meine Kreise drehe, sehe ich, wie die Fahrzeuge nach und nach in Richtung Halle abrücken. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon oben bin, aber selbst wenn ich wöllte, so einfach runter geht es heute nicht. Ich beschließe, einfach noch ein bisschen rumzufliegen, trimme auf 130 aus und nehme Kurs auf Perleberg. Über dem Kreiskrankenhaus wende ich und fliege Parallel zur Platzgrenze bis nach Dergenthin. Irres Streckenwetter denke ich und hoffe gleichzeitig, dass das am nächsten Wochenende auch so sein wird. Die Else verlangt nach mehr. Und mein Fliegerego auch. Oder vielleicht auch der kleine wütende Junge in mir, der gerade so völlig versöhnt ist mit der Welt. Mit 120 und gezogenen Klappen leiere ich mich wieder gen Erde und fliege eine letzte saubere Landeeinteilung. „Delta 42, rechter Gegenanflug, lange Landung, Fahrwerk ausgefahren und verriegelt“, melde ich per Funk. Nach der vierten Kurve nehme ich die zweite Schwelle als Abfangpunkt und arbeite mich mit den Klappen langsam an den Boden ran. Doch dieses Mal bringe ich den Flieger viel sauberer runter als ich eigentlich wollte, so dass es nur eine halblange Landung wird.Der rote Golf kommt, und wir nehmen den Flieger an die Leine. Langsam und zufrieden dackel ich Händchen- bzw. Fläche haltend neben meiner neuen Freundin her. Mit dem Zuschieben der Hallentore geht ein schöner erster Saisontag zu Ende.
Edit: Danke für den Hinweis, dass ich die Auflösung des unbekannten Geräuschs schuldig geblieben bin. Beim Debriefing meinte einer meiner Kameraden, dass das wahrscheinlich die Fahrwerksklappe gewesen ist. Bei entsprechender Anströmung kann es sein, dass die sich von allein öffnet und durch die Feder gleich wieder zugeschlagen wird, was ein ganz ganz hässliches Donnern verursacht.
Was noch offen bleibt:
„Nur der harte metallische Schlag in dem Moment gibt mir zu denken, denn ich habe keine Ahnung, ob irgendwas kaputt gegangen ist. “ – ging denn nun irgendwas kaputt …?